Samstag, 14. Februar 2009

Das Los der Wanderarbeiter

Das Los der Wanderarbeiter

Die nächste chinesisches Revolution
Von Mark Siemons, Peking


14. Februar 2009 Das "Dokument Nr. 1" des neuen chinesischen Jahres
befasst sich mit den Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die
Bauern - doch die Umstände, unter denen die Regierung in Peking das
Papier vorstellte, lassen keinen Zweifel daran, dass sie dieses Thema
nicht bloß für ein ökonomisches hält. Das gemeinsam vom Staatsrat und
vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei herausgegebene
Achtundzwanzig-Punkte-Programm verknüpft die geschätzten zwanzig
Millionen Wanderarbeiter, die infolge der verminderten Auslandsnachfrage
arbeitslos geworden und jetzt in ihre Dörfer zurückgekehrt sind, direkt
mit der Sicherheit des Staates. Die lokalen Verwaltungen wurden
angewiesen, nach Möglichkeit auf Deeskalation zu setzen. Am selben Tag
mahnte Staatspräsident Hu Jintao die Oberbefehlshaber der
Volksbefreiungsarmee, angesichts möglicher militärischer
Auseinandersetzungen die Disziplin zu wahren und sich über die
Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.

Offensichtlich steht der Regierung ein Szenario vor Augen, das noch
gewaltiger und bedrohlicher ist als die jährlich achtzigtausend
"Zwischenfälle", die die amtlichen Statistiken ohnehin schon vermelden.
Die Unruhen waren bislang lokal begrenzt und hatten meist die
Willkürherrschaft örtlicher Funktionäre zum Anlass, vor allem, was
Umsiedlungen und ausbleibende Entschädigungen betraf.

Einen umfassenden Armuts- und Verzweiflungsaufstand hat es bisher nicht
gegeben, doch anscheinend hält ihn die Regierung mittlerweile für
möglich. Das rührt an historische Traumata.

*Die Macht der Bauern*

Schon der alten kaiserlichen Geschichtsschreibung erschien die
Zufriedenheit der Bauern als das entscheidende Kriterium politischer
Legitimität. Dass eine Dynastie das Mandat des Himmels, ihr Recht zu
herrschen, verloren hatte, erkannte man daran, dass Bauernaufstände,
ausgelöst durch Hunger und untragbare Steuerlasten, sie zu Fall brachten.

Den Konfuzianern galten die Bauern als eine der beiden Stützen des
Staats: Die Regierung regiert, und die Bauern produzieren. Für die
Kommunisten waren sie im Bürgerkrieg der Motor der Revolution: "Die
Städte vom Land her einkreisen", hieß Maos Devise. In früheren
Rebellionen waren es oft krude Heilsprediger, die sich an die Spitze der
empörten Massen stellten, am fatalsten in der Taiping-Bewegung, die im
neunzehnten Jahrhundert einen Bürgerkrieg mit dreißig Millionen Toten
entfesselte.

Solche kollektiven Erinnerungen schwingen wohl mit, wenn das "Dokument
Nr. 1" die Anmerkung macht: "Wir müssen feindliche Kräfte daran hindern,
die Religion zu benutzen, um unsere Dorfgemeinden zu infiltrieren."

*Kein Land, keine Sicherheiten, keine Arbeit*

Jedenfalls ist offensichtlich, dass es sich im Fall der Wanderarbeiter
nicht um eine Arbeitslosenstatistik wie jede andere handelt. Laut einer
Schätzung des Staatlichen Forschungszentrums für Landwirtschaft stammen
vierzig Prozent der Einkünfte auf dem Land von dieser Gruppe, die sich
in den Städten auf Baustellen und in Fabriken verdingt.

.........

*Forderungen nach einer sozialen Neugliederung*

Doch eine Reihe von hohen Regierungsbeamten haben in den letzten Wochen
zu erkennen gegeben, dass sie nichts Geringeres als eine Umgestaltung
der ganzen sozialen Gliederung für notwendig halten. Ihre Vorschläge
laufen darauf hinaus, die anachronistisch gewordene Bauern-Definition
aufzulösen und dadurch die gesamte Gesellschaft für jene individuelle
Eigeninitiative durchlässig zu machen, die den Städten so viel Erfolg
gebracht hat.

Das von der Regierung zur Konjunkturankurbelung angekündigte Geld, sagt
Li Tie von der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission, solle auch
zu einer Reform des Meldewesens verwendet werden, um der entscheidenden
"kreativen Gruppe" der Wanderarbeiter einen realen Platz in der
Gesellschaft zu verschaffen, also auch dort, wo sie arbeiten: in den
Städten.

Ähnlich fordert Dong Keyong in der Wochenzeitung "Nanfang Zhoumo" von
den Städten Vorkehrungen, damit sich Wanderarbeiter in ihnen dauerhaft
niederlassen und Unternehmen eröffnen können; so ließe sich langfristig
die für China notwendige Binnennachfrage steigern.

Als Voraussetzung, sagte der Entwicklungsforscher Tang Min auf einer von
dem reformerischen Wirtschaftsmagazin "Caijing" veranstalteten
Konferenz, müsse so rasch wie möglich ein soziales Sicherungssystem auf
dem Land aufgebaut werden.

*Eine ungwohnte Rolle für China *

Wenn diese Reformen tatsächlich durchgesetzt würden, stünde China eine
Umgestaltung von nicht geringerem Ausmaß bevor, als sie in den neunziger
Jahren die Privatisierung der meisten Staatsbetriebe mit sich brachte.
Das Niveau der gesamten Wirtschaft würde auf einen Schlag gehoben: Die
höheren Sozialleistungen und die bessere Ausbildung erfordern höhere
Steuern und ein höheres Lohnniveau - und bedeuten für die ausländischen
Abnehmer höhere Preise für höherwertige Produkte.

Das ist riskant. Die vertraute Rolle Chinas als Billiglohnland würde
sich rascher als geplant ändern, mit ungewissem Ausgang. Aber
möglicherweise erzwingt die globale Krise einen solch plötzlichen
Entwicklungssprung.

So oder so beschwört die Lage der chinesischen Bauern wieder einmal
große Veränderungen herauf. Jetzt betreffen sie allerdings zum ersten
Mal die ganze Welt.


Text: F.A.Z.

Suche

 

Kontakt

Georg +++ geb@office-dateien.de

Aktuelle Beiträge

Lafontaine ruft Deutsche...
Der frühere Vorsitzende der Linkspartei, Oskar Lafontaine,...
lieberaugustin - 7. Okt, 13:14
Die HEILIGKEIT der Kirche
Die Konvertitin Gertrud v. le Fort (1876-1971) schrieb...
lieberaugustin - 30. Sep, 21:32
Einstein - Zitate
Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen...
lieberaugustin - 30. Sep, 21:04
Die wahren Kriege der...
Es ist im Grunde schon absurd, dass es für Steuern...
lieberaugustin - 30. Sep, 20:58
Das letzte Aufgebot -...
"Wenn sich ein paar alte Herren in die Loge setzen...
lieberaugustin - 27. Sep, 09:45

Links

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Status

Online seit 6061 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 7. Okt, 13:14

Credits


AUGUSTIN
BILDUNG
HIOB
KIRCHE
KUNST
MEDIEN
POLITIK
WIRTSCHAFT
ZITATE
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren